Predigt: 2.Mose 33, 18-23 im Januar 2023
Liebe Schwestern und Brüder!
Einer der berühmtesten Romane des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago, der im Dez. des letzten Jahres 100 geworden wäre:
"Die Stadt der Blinden".
Der Roman beginnt damit, dass ein Autofahrer an einer Kreuzung stehenbleibt, weil er plötzlich erblindet ist. Der Mann, der ihm hilft und ihn nach Hause bringt - und ihm übrigens gleich danach das Auto stiehlt, erblindet ebenfalls. Und dann erwischt es auch den Augenarzt, der ihn untersucht. Es gibt keine Erklärung für diese grassierende Blindheit, aber sie ist hoch ansteckend und verbreitet sich wie eine Epidemie. Also werden die Blinden kurzerhand in einem aufgelassenen Irrenhaus abgesondert und dort - bis auf Essenslieferungen - sich selbst überlassen. Soldaten haben den Auftrag, die Fliehenden zu erschießen. Verstünde sich José Saramago nicht so gut auf groteske Situationen, wäre die Beklemmung oft kaum zu ertragen.
Anlässlich der Verfilmung des Romans hat Saramago in einem Interview einen kurzen Hinweis darauf gegeben, wofür das Horrorszenario seines Romans steht: "Sehenden Auges bleiben wir Blinde. Wir können sehen, aber sehen nicht. Wir leben mit dem alltäglichen Horror und haben gelernt, wegzuschauen."
Nur die Frau des Augenarztes erblindet nicht. Sie tut so, um ihn begleiten u. bei ihm bleiben zu können.
Warum erblindet sie nicht? Weil die Nähe zu ihrem Mann stärker ist als alle Angst - eine andere Erklärung finde ich nicht. Und weil sie damit befasst ist, zu helfen, wo sie kann, ohne ihre Verstellung aufzugeben. Ich versuche, mir etwas von ihr abzuschauen; aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt.
Mose möchte Gott schauen. Er möchte sein Antlitz sehen.
Sehen, im Sinne von Erkennen, auf Nummer Sicher gehen.
Warum? Vielleicht weil er selbst unsicher geworden ist und Zweifel ihn plagen – nicht nur bezüglich seines Glaubens, sondern auch bezüglich seiner gesamten Mission.
Beides hat er erlebt. Aufbruch und Befreiung aus Ägypten. Er hat die 10 Gebote erhalten, aber er hat auch erleben müssen, wie schnell sich sein Volk wieder den alten Mustern zuwendet. Wie schnell es geht, dass man murrt, unzufrieden, undankbar und verführbar ist. Ein sichtbarer und angreifbarer Götze muss her, weil Mose so lange nicht zurückkommt vom Berg Sinai.
Was jetzt? Wo soll die Reise hingehen? Was wird von ihm noch erwartet?
Da möchte Mose Klarheit, Sicherheit, ja er fordert einen Gottesbeweis.
Doch damit blitzt er ab.
Das Sehen und Erkennen ereignet sich in der Erfahrung der Gnade und Barmherzigkeit
Sehen und Erkennen, quasi im Vorübergehen, ja im Rückblick, im Hinterherschauen.
Glaube, der uns die Augen öffnet, der uns Erkenntnis schenkt und vermittelt, der uns ermutigt, den Weg der Freiheit fortzusetzen, den Weg der Gnade und Barmherzigkeit.
Amen